Das wachsame Auge des großen Bruders
US-Projekt "Total Information Awareness": Durch Sammeln aller verfügbaren Informationen sollen potenzielle Terroristen rechtzeitig enttarnt werden
von Ulli Kulke
Washington - Das Logo ließ an dem Anspruch keinen Zweifel, er war total. Von der Spitze einer Pyramide überwachte ein Auge den gesamten Erdball, und darunter stand der Sinnspruch: "Scientia est potentia" - Wissen ist Macht. Auch der Titel des Vorhabens, das hinter diesem Etikett stand, war deutlich genug: "Total Information Awareness" (TIA). Frei übersetzt: "Vollständige Informationssammlung". TIA, das Kürzel stand für das Projekt des Pentagons, alle Daten, grundsätzlich alle, derer sie habhaft werden könnten, über alle Menschen, grundsätzlich alle, zu sammeln, zu speichern und auszuwerten.
Nicht weniger als die elektronische Generalmobilmachung gegen den Terror stand an. Die US-Administration wollte sich nicht mehr die Blöße geben, verdächtige Bewegungen und Transaktionen im Land nicht beachtet zu haben. Die Konsequenz: Jeder Einkauf mit Kreditkarte, jedes Zeitschriftenabonnement, jede Reise, jeder Klick im Internet an jedem Computer, ob im Büro oder zu Hause, jede E-Mail, jeder Einkauf in jeder Apotheke, jede Kontenbewegung, jedes Telefongespräch, alle menschlichen Bewegungen auf kameraüberwachten öffentlichen Plätzen, mit besonderem "Kameramerk" auf biometrische Daten etwa des Ganges - all das sollte gespeichert werden und von einem intelligenten System nach auffälligen, verdächtigen, anormalen Transaktionen automatisch durchgesiebt werden. Oder aufgehoben, um spätere Ermittlungen zu erleichtern.
TIA war eines der Projekte, die geplant waren im Rahmen des Patriot Act, ein Gesetzespaket, das das US-Parlament nach dem 11. September verabschiedet hatte. Eine eigene Forschungsstelle (Defense Advanced Research Projects Agency, kurz: Darpa) wurde gegründet, die schließlich TIA anschob. Eine technische Herausforderung, für die die ersten Ausschreibungen an die Computerindustrie in Gang gesetzt wurden. Datenmengen im Bereich von Billiarden Peta- oder gar Exabyte hätte es schließlich gegolten auszuwerten. Knapp 545 Milliarden Dollar hatte das Pentagon bis 2005 bereitgestellt. So war es geplant.
Doch dann wurde nichts daraus. Im Spätsommer 2003 war der Traum der allumfassenden Überwachung ausgeträumt - vorerst. Der Kongress stoppte das Projekt in mehreren Etappen, strich im Sommer alle Mittel, schloss per Gesetzesänderung das TIA-Büro (IAO) und setzte das Pentagon unter Informationspflicht: Alle Vorhaben, die das US-Verteidigungsministerium fortan in diese Richtung plant, sind ab sofort unverzüglich dem Kongress mitzuteilen und nur mit dessen ausdrücklicher Genehmigung erlaubt.
Hauptbremser in Sachen TIA war Ron Wyden, demokratischer Senator aus Oregon, der einwandte: "Wir können nicht alle Amerikaner an den Füßen hochziehen, sie schütteln und dann schauen, ob was Seltsames aus ihnen herausfällt." Wohlgemerkt: "alle Amerikaner" - Geheimdienstaktivitäten, die Entsprechendes im Ausland planten, sollten weiterlaufen dürfen.
Das vorläufige Scheitern des Projektes - US-Präsident Bush forderte die Revision des Beschlusses - ist auch auf die Lobbyarbeit von Datenschützern und Bürgerrechtsgruppen zurückzuführen, die für ihre Argumentation freilich gute Ansatzpunkte fanden. Nicht nur das Emblem des TIA, das die perfekte Umsetzung von George Orwells Big Brother reklamierte, auch eine heikle Personalie hatte die Öffentlichkeit zumindest in Staunen versetzt. Chef des TIA-Büros war nämlich Admiral John Poindexter, einst Schlüsselfigur in der Irangate-Affäre der achtziger Jahre. Poindexter hatte im Geheimen an den Iran, damals Dreh- und Angelpunkt des Bösen, Waffen verkauft, um mit dem Erlös die amerikafreundlichen Rebellen in Nicaragua in ihrem Kampf gegen die Sandinisten zu unterstützen. Poindexter wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, von höherer Instanz allerdings freigesprochen.