Genau davon rede ich. Ist Rechtsstaat Mittel oder Zweck?
Mittel und Zweck, weil beides miteinander verwoben ist, auch darum geht es. Man kann Entscheidungen und Probleme immer singulär sehen und häufig einfache Lösungen dafür finden, die aus rein humanistischer Sicht umso radikaler ausfallen dürfen, je extremer das Problem ist, ohne moralisch verwerflich zu sein. So funktioniert aber die Welt nicht, weil Entscheidungen und Probleme eben keine singulären Ereignisse sind, sondern direkte und vor allem eine große Zahl an indirekten Auswirkungen haben.
Du bist der Meinung, man hätte die Terroristen des IS gar nicht erst gefangen nehmen dürfen, sondern sie direkt erschießen sollen. Das ist eine singuläre Betrachtung, und ich kann sehr gut nachempfinden, warum du (und sicher auch viele andere) das genau so sehen. Aber diese Ansicht berücksichtigt die vielen Faktoren nicht, die durchaus ebenfalls relevant sein können oder relevant sind:
- welche Auswirkung hat ein solcher "Befehl" auf die kämpfenden Soldaten?
- welche Auswirkung haben diese Soldaten auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung?
- welche Auswirkung hat ein solcher "Befehl" auf andere inenrgesellschaftliche Aspekte?
- welche Auswirkungen hat die Umsetzung auf zwischenstaatlicher Ebene?
Und das sind nur die direkten Faktoren, was ist mit den indirekten Faktoren?
Ein einzelnes Ereignis dieser Art sorgt nicht für einen großen gesellschaftlichen Unterschied, vermehrtes Auftreten kann aber zu einer gesellschaftlichen Zersetzung führen. Du führst an, wie bereits heute rechtsstaatliche Grundsätze ignoriert werden, als Argument dafür, dass man es in diesem Fall auch machen kann - es hat ja eh keinen Wert mehr. Damit bestätigst du meiner Meinung nach letztlich nur, wie diese Zersetzung der Gesellschaft sich auswirkt.
Darüber hinaus ist es auch eine Frage von Willkür. In dem einen Fall ist dir das individuelle Recht egal und nur der kurzfristige gesellschaftliche Nutzen relevant (siehe dein Beispiel des kranken Dorfes), in dem anderen Fall spielt der gesellschaftliche Faktor gar keine Rolle, und es geht nur um das individuelle Recht (siehe dein Beispiel Ali B.). Auch das ist eine Entwicklung, die ich sehr kritisch sehe, weil du keine klar definierte Linie vertrittst, sondern Individualurteile aufgrund deines eigenen moralischen Empfinden als maßgeblich betrachtest. Singulär ergibt das sehr viel Sinn, in der Summe für mich allerdings nicht.
Dein wiederholtes Argument, dass Sicherheit vor Freiheit kommen muss, teile ich ebenfalls nicht. Für mich ist Sicherheit nur mit Freiheit möglich, genauso wie es Freiheit nur mit Sicherheit geben kann. Beide stehen in einer ständigen Wechselwirkung, und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, weil jede kurzfristige Verlagerung zu der einen eine langfristig Auswirkung auf die andere Seite hat. Vielmehr müssen immer beide Aspekte gemeinsam betrachtet werden, und eine Entscheidung muss beide Faktoren würdigen.
Ich kenne deine Geschichte nicht, weiß nicht, welche Erfahrungen du im Leben gesammelt hast und wie tief du dich mit den jeweiligen Punkten auseinander gesetzt hast. Ich gestehe dir deine Meinung zu, ohne dich in irgendeiner Form persönlich anzugreifen - nicht mehr erwarte ich aber auch mir gegenüber von dir. Mir ist bewusst, wie fehlerhaft auch unsere soziokulturelle Identität ist, und ich habe hier mehr als einmal gegen utopische und für praktische und pragmatische Lösungen argumentiert. Das ändert aber nichts daran, dass meine Position legitim und begründet ist.
Insofern ist die Frage nicht, zu welcher Sorte Mensch ich gehöre, sondern eher, ob du solch eine Frage stellen willst oder nicht? Wenn ja, dann sehe ich keinen weitere Sinn in einer Diskussion, denn dann geht es nicht um eine Erweiterung des Horizonts aufgrund einer Pluralität von Meinungen, sondern nur um den Versuch, die Deutungshoheit zu erlangen. Und auf das Spiel habe ich schon seit langer Zeit keine Lust mehr.